Ein Leben auf der Überholspur: Am 7. April wäre Billie Holiday 100 geworden

Ein Leben auf der Überholspur: Am 7. April wäre Billie Holiday 100 geworden

Billie Holiday ist die Stimme des Jazz und vielleicht auch die Stimme des 20. Jahrhunderts. Ihr Leben war so intensiv wie ihre Musik, eine außergewöhnlich talentierte Frau, die ein Leben auf dem Drahtseil, auf der Überholspur führte, stets vom Unrecht der Rassentrennung, von falschen Freunden und den Auswirkungen ihrer Drogensucht bedroht. 1939 sang sie erstmals den Song „Strange Fruit“, ein Aufschrei gegen die Lynchjustiz an Schwarzen. In dem Film „New Orleans“ (1946) durfte sie nur die Rolle spielen, die Hollywood damals für Schwarze vorsah: das Dienstmädchen. Billie Holiday starb mit nur 44 Jahren. Ihre Autobiographie wurde in viele Sprachen übersetzt. Diana Ross spielte „Lady Day“ in dem Film „Lady sings the Blues“. Am 7. April 1915 kam Billie Holiday im Philadelphia General Hospital als Elinore Harris zur Welt. So soll es zumindest in der offiziellen Geburtsurkunde stehen, auch wenn viele Holiday-Biographen ihren Geburtsnamen wahlweise mit Eleanora Fagan, Eleanora Gough, Eleanora Fagan Gough, Eleanora Gough McKay oder Eleanora Gough Harris angeben.

Sadie Harris, ihre Mutter, ist 19 und unverheiratet, als ihre Tochter Eleanora zur Welt kommt. Die Mutter sagt ihrem Kind, der talentierte Gitarrist Clarence Holiday sei ihr Vater. Eleanor, wie Billie wirklich hieß, wächst bei der Halbschwester auf, dann bei der Großmutter, wohnt kurz bei der Mutter, kommt dann in ein Erziehungsheim, dann wieder zur Mutter, wo sie 1926 im Alter von elf Jahren von einem Nachbarn vergewaltigt wird und man sie zur Strafe wieder ins Erziehungsheim einweist.

Holidays Leben war in der Tat turbulent, bisweilen tragisch. Am 7. April wäre die große Tragödin des Jazzgesangs 100 Jahr alt geworden. Entdeckt wird sie 1933 von dem jungen Musikproduzenten John Hammond. Er hat schon Bessie Smith aufgenommen und fördert auch Jazzlegenden wie Benny Goodman, Count Basie und Teddy Wilson, sowie Pete Seeger und später auch Aretha Franklin und Bob Dylan. Hammond organisiert ihre erste Aufnahmesession mit Benny Goodman und nimmt sie 1935 unter Vertrag: Sie soll mit dem Pianisten Teddy Wilson Platten für das wachsende Jukebox-Geschäft aufnehmen. Während dieser Zeit lernt sie auch den Saxophonisten Lester Young kennen, der ein enger Freund und geschätzter Kollege wird. Er gibt ihr den Namen „Lady Day“, und sie nennt ihn „Prez“, den Präsidenten.

Von 1937 bis 1938 tritt Billie Holiday mit dem Count Basie Orchester auf und geht dann mit Artie Shaw und seiner Band auf Tournee. Sie ist eine der ersten schwarzen Frauen, die mit einer „all-white“ Band auftritt, und muss wiederholte Diskriminierungen hinnehmen, vor allem im amerikanischen Süden, wo sie in weißen Restaurants nicht bedient wird. Das Leben der schwarzen Jazzsängerin Billie Holiday ist wohl das traurigste Kapitel der jüngeren Musikgeschichte. „Every girl singer should go down on her knees and thank God there was a Billie“, sagte einst die Britin Annie Ross, Mitglied des legendären Gesangstrios „Lambert, Hendricks & Ross“ und tat damit ihre tiefe Verehrung für Billie Holiday kund.

Ohne Übertreibung kann man sagen, dass Holiday den zu Jazz gewordenen Klang verkörperte. Ihr Timbre war ein Phänomen. Andere Sängerinnen mussten sich abmühen, mussten improvisieren, phrasieren, skandieren, ihre Stimme als Instrument einsetzen, rasante Scatvocals singen. Billie Holiday sang ein Lied. Und das wars. Sie brauchte nur den Mund aufzumachen, und vom ersten Ton an stellt sich auf unerklärliche Weise eine spezifische „jazzige“ Qualität ein, durch die selbst der banalste Song vom Schlager zum Kunstwerk transformiert wird. Als sie begann, Anfang der Dreißigerjahre, hat niemand so gesungen wie sie. Sie hatte eine Art, die Noten zu biegen, die einzigartig war – fast wie ein Saxophonist, der auf seinem Instrument improvisiert. Sie war unglaublich gut darin, den emotionalen Kern eines Songs freizulegen, viel besser als die Sängerinnen, die es vor ihr gegeben hatte.

„Strange Fruit“, diese unvergessliche, anrührende Hymne, sagt vieles aus über ihren Seelenzustand, ihre tiefe Traurigkeit, ihre Bitterkeit. Das Lied von den seltsamen Früchten, die in den Südstaaten von den Bäumen baumeln: die verbrannten Körper gelynchter Farbiger, die dem weißen Mob zum Opfer gefallen sind. Billie Holiday hat dieses Lied aus tiefster Überzeugung heraus gesungen. Trotz aller schrecklichen Erlebnisse und bitteren Erfahrungen hat sich ihre Stimme immer etwas seltsam Mädchenhaftes bewahren können. In den 40er und 50er Jahren sang Lady Day mit Jazzbands und Streichorchestern, mit Triobesetzungen und mit hastig zusammen gewürfelten Gruppen.

Musikalisch war sie nach Louis Armstrong die beste Stimme des Jazz. Ab 1935 wurde sie ein Star. „The Quintessential Billie Holiday“, Vol. 5, aufgenommen 1937/38 mit fünf Musikern aus Count Basies Orchestra war ein Höhepunkt ihres Schaffens. Dabei waren Trompeter Buck Clayton, Tenorsaxofonist Lester Young, Gitarrist Freddie Green, Bassist Walter Page und Schlagzeuger Jo Jones. Dazu kamen verschiedene Pianisten, am häufigsten Teddy Wilson, und ein guter Klarinettist – Benny Goodman, Edmond Hall, Buster Bailey – oder ein Posaunist von Basie, wie Benny Morton oder Dicky Wells. Folge 5 der chronologisch geordneten CBS-Jazz-Masterpieces-Serie bietet einen sehr guten Querschnitt ihrer Leistungen. Ebenfalls empfehlenswert: „The Complete Verve Studio Master Takes“ (eine 6-CD-Box, bei Universal erschienen), allesamt in den Fünfzigern, also in Holidays Spätphase, aufgenommen.

Musikalisch verstand sich Holiday besonders gut mit Lester Young, dessen Spiel äußerst melodisch war. Er entwickelte bei diesen Sessions seine Ideen noch behutsamer und schmeichelnder als sonst. Egal welchen Song Lady Day auch sang, Holiday machte einen Text glaubhaft. Und Billie sang unglaublich viele Lieder. Es würde den Rahmen sprengen sie alle hier aufzuzählen. Aber einige, die schönsten und wichtigsten, sollen hier erwähnt werden. Das koproduzierte „God Bless the Child“ wurde hundertfach von vielen Sängern und Sängerinnen interpretiert, doch an das Original kam keine Version heran.

Noch ein Meisterwerk ist „My Man“. Wenn man Billie dieses leidenschaftliche Liebeslied singen hört, fragt man sich unwillkürlich, an welchen der vielen Männer, die sie liebte und von denen sie verlassen wurde, sie wohl dachte. Großartig und tieftraurig auch ihr „The Man I Love“ oder „Body and Soul“, „All of Me“, „Love Me or Leave Me“, „Nice Work if you Can get it“, „He’s funny that way“, „When You’re Smiling“, „Trav’lin All Alone“ und, und, und.

Eine Jazzsängerin, die nicht Scat singt, also kein Instrument imitiert, wird an ihrer Fähigkeit gemessen, eine vorgegebene Melodie zu überarbeiten – und darin war Billie Holiday ausgezeichnet, meist um Klassen besser als das Original. Bestechend auch ihre wunderschöne Stimme und trompetenähnliche Artikulation. Dagegen war ihr Stimmumfang eher gering. Billie Holiday ist die große Sängerin des Understatement. Ihre Stimme hat nichts von der voluminösen Härte und Majestät einer Bessie Smith. Es ist eine schmiegsame, kultivierte, sensible Stimme.

Die späten Vierziger, frühen Fünfziger waren Holidays große Zeit. Aus diesen Jahren stammen die berühmten Bilder, Abendrobe, Gardenie im Haar. Sie sang in der Carnegie Hall, sogar in der Metropolitan Opera, ging 1954 auf eine ausgedehnte Europa-Tournee. Kurz vor ihrem Tod holte sie Norman Granz noch einmal ins Studio und umgab sie mit einer Gruppe handverlesener Künstler aus seiner JATP-Truppe (Jazz at the Philharmonic). Oscar Peterson (Piano) war dabei, Harry Edison an der Trompete, Barney Kessel als Gitarrist. Und der legitime Nachfolger Lester Youngs, der aus Denver stammende Tenorsaxofonist Paul Quinichette. Die Stimme von Lady Day ist bei diesen Aufnahmen nur mehr eine Ruine. Sie klingt rau und belegt. Es ist keine Schönheit mehr in ihr. Nur das phänomenale Timing ist noch da und die traumwandlerische Sicherheit in der Phrasierung, das Feeling.

Die Nachricht vom Tod Lester Youngs am 15. März 1959 stürzte Billie Holiday in eine tiefe Krise. Am 31. Mai musste sie ins Metropolitan Hospital, Leber und Herz machten nicht mehr mit. Polizisten standen vor ihrem Krankenzimmer, sie galt als verhaftet wegen Drogenbesitz. Von ihren Einkünften hatten unterdessen andere gelebt: Als Billie Holiday am 17. Juli 1959 an einer Leberzirrhose starb, hatte sie 70 Cent auf der Bank und ein Zeitschriftenhonorar von 750 Dollar in bar bei sich.

wgm_wilson_holidayAn dieser Stelle sei noch auf zwei bemerkenswerte Billie Holiday-Tribute-Alben hingewiesen. Das eine Album stammt von Cassandra Wilson. Auf „Coming Forth By Day“ (erschienen bei Sony) zollt Wilson ihrem großen Vorbild Billie Holiday Tribut, pünktlich zum 100. Geburtstag der Jazz-Legende am 7. April 2015. Wilson sagt über Billie Holiday, sie habe gesungen wie niemand vor ihr: improvisatorisch und instrumental. Sie wusste den emotionalen Kern eines Songs zu erkennen und zu vermitteln. Dieser revolutionären Art zu singen huldigt Cassandra Wilson auf ihre eigene revolutionäre Weise. Wilson entwickelt für die CD einen entspannten, zeitgenössischen und fast experimentellen Ansatz, mit den Songs umzugehen, die als Billie-Holiday-Klassiker bekannt sind. Besonders gelungen: die entschleunigte, hypnotisierende Interpretation von „The Way You Look Tonight“ oder „Don’t Explain“.

Neben ihren langjährigen Weggefährten John Cowherd (Klavier) und Kevin Breit (Gitarre) sind Thomas Wydler (Schlagzeug) und Martyn P. Casey (Bass) sowie die Gitarristen Nick Zinner und T Bone Burnett auf dieser Produktion mit von der Partie. Die Streicherarrangements stammen von Van Dyke Parks, produziert wurde das Album von Nick Launay.

Auch Jose James erweist der Jazzikone mit einem Tribute-Album seine Reverenz. Auf „Yesterday I Had The Blues – The Music of Billie Holiday“ (Blue Note) interpretiert er auf seine unnachahmliche Art neun Song-Preziosen aus dem reichen Fundus der legendären Sängerin.

Sendungen zu Billie Holiday im Radio und TVBR 7.4. 23.05 Uhr Billie Holiday zum 100. Geburtstag, Deutschlandradio Kultur 7.4. 01.05 Uhr Zum 100. Geburtstag von Billie Holiday, MDR Figaro 7.4. 19.35 Uhr Billie Holiday, NDR Info 11.4. 20.15 Uhr Billie Holiday, RBB Kulturradio 7.4. 19.30 Uhr Billie Holiday, SWR 2 7.4. 19.30 Uhr Billie Holiday Variationen, WDR3 7.4. 22.00 Uhr Zum 100. Geburttag von Billie Holiday, 8.4. 21.05 Uhr Billie Holiday, NDR Info 11.4. 20.15 Uhr Billie Holiday, ARTE 12. 4. 22.05 Uhr Porträt: Billie Holiday – A Sensation, 12.4. 23.00 Uhr Tribute to Billie Holiday. Ein Abend mit Cassandra Wilson

 

 

Schreibe einen Kommentar