Tessin: Wilde Täler, winzige Dörfer und feine Merlots

Tessin: Wilde Täler, winzige Dörfer und feine Merlots

Für viele Touristen aus dem Norden hört das Tessin am Luganersee auf. Das daran anschließende Mendrisiotto – ganz am Südzipfel der Schweiz – wird mehr oder weniger als Durchgangsregion vor dem Grenzübertritt nach Italien wahrgenommen. Doch wer sich Zeit nimmt, der findet das typische Mendrisiotto noch. Gemeint sind die Dörfer mit den lombardischen Häusern, die sanften Hügelzüge, die wildromantischen Bergregionen und die verstreuten Weinberge. Das Mendrisiotto ist die wichtigste Weinregion des Kantons und besitzt sogar die größte Rebfläche des Tessins. Fast 350 Hektar sind mit Reben bepflanzt, was rund einem Drittel der kantonalen Rebfläche entspricht. Über 80 Prozent entfallen auf den Merlot, zunehmend werden aber auch weiße Sorten wie Chardonnay, Chasselas, Pinot Grigio und Sauvignon blanc angepflanzt.

Als Ausgangspunkt für unseren Besuch in diesem Teil des Tessins haben wir Vacallo gewählt. Das kleine Dorf liegt am Fuß des Monte Bisbino. Dort, unweit von Chiasso befindet sich das erste Weinhotel im Tessin, das Conca Bella Boutique Hotel & Wine (13 Gault Millau Punkte). Hier haben wir uns für einige Tage einquartiert. Eine sehr gute Wahl, wie wir schnell feststellen. Ein Bijou! Denn das kleine, aber feine Hotel ist ein guter Ausgangspunkt, um das Muggiotal, die Breggia-Schlucht, den Monte Generoso und das grüne Mendrisiotto zu entdecken. Auch der Luganersee ist von Vacallo aus nur einen Katzensprung entfernt. Der sympathische Familienbetrieb bietet eine ausgezeichnete regionale Küche und verfügt über einen beeindruckenden Weinkeller, der das Herz von Weinliebhabern höher schlagen lässt.

Die Inhaberfamilie Montereale setzt im „Conca Bella“ auf die besonderen Qualitäten dieser Region. Jahrzehntelang war das Restaurant des Hotels ein Gourmet-Treffpunkt – mit zuletzt 17 Gault-Millau-Punkten und einem Michelin-Stern. „70 Prozent unserer Gäste wa­ren Italiener“, sagt Michele Montereale, der den Betrieb zusammen mit seiner Mutter Ruth führt. „Sie kamen wegen der Banken in Chiasso in die Region und gönnten sich dann etwas Besonderes.“ Doch das Ende des Bankgeheimnisses ließ die Finanzgeschäfte im Grenzort schrumpfen. Die Gäste blieben aus, obwohl das Restaurant und der Weinkeller international berühmt waren.

Die Montereales mussten sich neu orientieren. „2017 entschieden wir uns für ein neues Konzept: Wir bieten im Restaurant immer noch höchste Qualität, haben aber die Gourmetwelt verlassen. Alle sollen herkommen können, auch Leute aus der Region und Touristen.“ Zudem haben die Montereales den Fokus des „Conca Bella“ geschärft: Sie setzen heute voll auf das Thema Wein – und haben ihren Betrieb zum ersten Tessiner Weinhotel gemacht. Erst kürzlich wurde der Betrieb erneut prämiiert.

In allen 17 Zimmern steht der Wein im Fokus. Überall findet man Reminiszenzen an den Rebensaft. Einen gefüllten Kühlschrank gibt es in den Hotelzimmern nicht – dafür auf dem Gang eine Getränkebar, von der man seinen Lieblingswein glasweise beziehen kann. Eine ganz besondere Attraktion des „Conca Bella“ ist der riesige Weinkeller, der auch als Weinhandlung dient und Tausende von Weinen präsentiert. 4000 Etiketten sind es insgesamt, darunter viele wertvolle Bordeaux-Tropfen.

Interessante Pakete rund ums Thema Wein ergänzen die Angebotspalette: etwa „Bike, Wine & Dine“,„Yoga, Wein und Essen“ oder – für Sportliche – „Smash, Wine & Dine“. „Diese unverfälschte Region wird noch immer schwer unterschätzt“, sagt Ruth Montereale. Vor allem Wanderer kommen hier voll auf ihre Kosten. Unser Fazit: Näher am Wein geht nicht. Hier werden Weinfans und solche, die es werden wollen, in einer Wohlfühl-Oase glücklich. Unbedingt empfehlenswert!

Am nächsten Morgen brechen wir auf zu einer Enogastronomischen Radtour. Start- und Endpunkt der Fahrt durch die Reben ist der Ort Balerna. Auf dem Drahtesel erkunden wir die umliegenden Weinberge. Immer bergab geht es bei dieser Bike & Wine Tour von Weingut zu Weingut. Unter der kundigen Führung von Carlo Crivelli – Weinhändler und umsorgender Organisator der Bike & Wine Tour – nehmen wir Fahrt auf. Der sprudelnde Winzer Crivelli hat das Angebot auf die Beine gestellt, erzählt spannend und kenntnisreich über seine Weinheimat. Er stammt aus einer Winzerfamilie und ist zwischen den Reben aufgewachsen. Wein ist noch immer seine Leidenschaft. Zusammen mit seinem Kompagnon Enrico Trapletti betreibt er die Fumagalli Vini, die mit einem nagelneuen Weinkeller ausgestattet ist. Das Gebäude an der Via Sotto Bisio 5 in Balerna überzeugt mit neuester Technik, Fotovoltaik-Anlage und einem luftigen, modernen Interieur.

Unseren ersten Wein-Stopp machen wir in der Azienda Vivivinicola Ortelli in Cortegliabei Winzer Mauro Ortelli, ein ehemaliger Buchhalter und inzwischen Winzer aus Überzeugung und Leidenschaft. Drei Weine werden hier verkostet, allesamt von sehr guter Qualität. Besonders im Gedächtnis geblieben ist sein im Stahltank ausgebauter, gehaltvoller Merlot „I Trii Pin“ (zu deutsch „drei Pinien“), der wunderbar zu Tessiner Wurstwaren oder Ossobuco passt. Inzwischen haben die Söhne die Bewirtschaftung der fünf Hektar Reben übernommen.

Wenige Kilometer weiter im Dörfchen Coldrerio treffen wir auf zwei lustige Weingesellen in ihrer „Piccola Vigna“ – das ist kein Euphemismus, sondern Realität. „Wir, mein Schwager Pierwalter Trapletti, und ich, bewirtschaften zwei Hektar Reben“, erzählt Piermarco Soldini. Die Hälfte der Trauben wird verkauft, der Rest gekeltert. „Weinbau ist unser Hobby, unsere Passion!“ Letzteres merkt man den Weinen an. Denn in punkto Qualität sind die Kleinen riesengroß: Immer wieder ausgezeichnet, gelang ihnen 2017 der große Coup: Ihr Merlot Barrique von alten Reben wurde beim Grand Prix du Vin Suisse 2017 als allerbester Merlot des Landes gefeiert! Und sie setzten zum Erstaunen vieler Experten noch einen drauf. Ihr Merlot Barrique Ticini DOC 2012 wurde gar zum weltbesten Merlot gekürt. „Der Merlot ist eine außergewöhnliche Sorte“, meint Piermarco schlicht, „zumindest, wenn man Geduld hat, ihn gut pflegt, in Weinberg und Keller seriös arbeitet – ihm Zeit gibt, sich zu entfalten.“ So reift der Merlot Barrique zwei Jahre im Holz und zwei weitere in der Flasche. „Wer guten Merlot produzieren will, darf nicht in Eile sein…“

Die Klassische Radtour durch die Weinberge mit Tourguide kostet 95 Schweizer Franken pro Person inklusive Besichtigung von mindestens zwei Weinkellern, die Degustation von sechs Weinen plus die Verkostung typischer regionaler Produkte wie Käse, Schinken und Wurstwaren aus der Region sowie den Verleih von Fahrrad und Helm. Diese Velofahrt wird regelmäßig im Sommer angeboten, auf Wunsch auch ganz individuell.

Tags darauf steht eine Rundwanderung mit unserem erfahrenen Wanderführer Antonio Borra – von Haus aus Architekt – im Muggiotal auf dem Programm. Ein Tal wie vor 100 Jahren. So könnte man es vielleicht treffend beschreiben. Die wilde Gegend mit ihren schroffen Steinschichten ist das südlichste Tal der Schweiz. Typisch für dieses authentisch gebliebene Kleinod sind die Ruhe, die Schönheit der Landschaft und nicht zuletzt der Kontakt mit der Natur. Nicht umsonst wurde das Valle di Muggio vor ein paar Jahren zur „schönsten Landschaft der Schweiz“ gekürt.

Start- und Zielpunkt der Wanderung ist das hübsche Dorf Bruzella, das auf 593 m Höhe liegt. Von hier aus gelangt man über einen alten Saumpfad zuerst zum Talgrund, der vom Fluss Breggia geformt wurde und dann wieder aufwärts bis nach Casima hinauf. Gut und gerne 4 Stunden ist man auf dem 8,5 Kilometer lagen Rundwanderweg unterwegs, wenn man sich etwas Zeit nimmt und auf dem hübschen Rastplatz eine Pause einlegen will. Die Wanderung wird zwar als leicht bezeichnet, doch an gewissen Stellen ist sie durchaus herausfordernd.

Die Eindrücke sind jedenfalls überwältigend. Das Tal gilt nicht von ungefähr als lebendiges Freilichtmuseum. Man wandert durch Kastanienwälder an winzigen Dörfern entlang, die an den Steilhängen kleben. Dabei kommt man an alten Gebäuden wie Kühl-(nevère), Wasch-, Vogelfang-(roccoli) und Kastaniendörrhäusern (graa) vorbei, die Zeugen früherer Zeiten und damaliger Gepflogenheiten und Traditionen sind.

Die Hauptattraktion auf dieser Tour ist gewiss die über 700 Jahre alte Mühle von Bruzella am Fluß Breggia. Schon im Mittelalter mahlte man hier Maroni, Getreide und Mais aus der Po-Ebene zu Mehl. Die Mühle ist umgebaut und restauriert worden und wird regelmäßig betrieben, dank der Erfahrung der Müllersleute Irene Petraglio und Giuseppe Bernasconi.  Sie ist von April bis Oktober jeden Mittwoch- und Donnerstagnachmittag und in der Regel drei Sonntage im Monat geöffnet. Immer noch wird Polenta-Mehl gemahlen, das man auch kaufen kann. Einen Abstecher ins Bergdorf Cabbio sollte man nicht auslassen. Denn dort befindet sich das Ethnographische Museum des Muggiotals (MEVM), dessen Besuch sehr zu empfehlen ist. Es zeigt dem Besucher auf interaktive Weise die wichtigsten Elemente der Landschaft des Muggiotals und des Monte Generoso. Er zählt mit seinen 1701 Metern zu den besten Aussichtsbergen. Der Blick reicht bis weit in die Poebene.

Und auch das Thema Wein holt uns hier in Cabbio wieder ein. Die Winzersleute Cavallini sind hier zuhause und möchten uns natürlich ihren Weinkeller und ihre Erzeugnisse vorstellen: ein kleiner, aber feiner Betrieb (drei Hektar) mit soliden, authentischen Weinen. Grazia und Luciano Cavallini gehören zu den vielen kleinen Winzerbetrieben im Tessin. Im Progamm haben sie neben Merlot inzwischen auch Cabernet Sauvignon. Der könne mittlerweile problemlos angebaut werden, erläutert Grazia stolz. Der Klimawandel mache dies möglich. Und auch Naturwein bzw. Biowein ist inzwischen bei den Cavallinis ein Thema. Wir lassen es uns dank Grazia in der Weinlaube gut gehen bei feinen Weinen und selbst gemachtem Zincarlin, dem gepfefferten Käse aus dem Muggiotal, der während der Produktion mit Weißwein eingerieben wird.

Ein Thema ist derzeit im Muggiotal in aller Munde und heißt „Albergo Diffuso“. Denn ganz am Ende des Tals in dem winzigen Bergdorf Scudellate mit kaum mehr als 15 Menschen, malerisch auf 900 Metern gelegen, und nur über eine enge, abenteuerliche Serpentinenstraße erreichbar, entsteht ein „Albergo Diffuso“. Dieses „verstreute Hotel“ soll das ganze Dorf am Fuße des Monte Generoso vor dem Verfall retten und am Leben halten. Konkret heißt das, in einem Albergo diffuso ist man nicht in einem Gebäude untergebracht, sie verteilen sich vielmehr über diverse Häuser. Und so fühlt man sich dort ein wenig wie ein echter Dorfbewohner.

Nach Corippo im Verzascatal ist dies das zweite Projekt im Tessin für ein „verstreutes Hotel“ nach italienischem Vorbild, welches mit vier Strukturen insgesamt 60 Betten anbieten will. Dreh- und Angelpunkt des „Albergo Diffuso del Monte Generoso AG“, wie sich die Betriebsgesellschaft des neuen Hoteldorfes nennt, ist die Osteria Manciana. Sie wurde komplett renoviert und fungiert ab sofort als Rezeption, Speisesaal und Mini-Hotel mit zwei modernen Gästezimmern. Das gegenüberliegende ehemalige Schulhaus wurde zum Gästehaus mit 24 Schlafplätzen in vier Räumen ausgebaut. Zudem entsteht derzeit auf der anderen Seite des Ortes ein gehobenes Bed&Breakfast mit sechs Zimmer, welches demnächst unter dem Namen Foresteria eröffnet werden soll, als dritter Teil des „Albergo Diffuso“. Auf der Alp Caviano wird ein weiteres Gebäude dem Projekt angeschlossen, das ab 2023 Eröffnung feiert. Den Anstoss für das „Albergo Diffuso“ gab Oscar Piffaretti. Seine Eltern führten 52 Jahre lang das Dorfrestaurant Manciana. Gemeinsam mit seiner Frau Simona hat er nun die Leitung übernommen und will mit dem Ensemble sein Heimattal touristisch beleben. Unterstützt wurde das Projekt, für das rund fünf Millionen Franken investiert werden u.a. vom kantonalen Finanzdepartment sowie der Schweizer Berghilfe. Am Eingang der Osteria gibt es einen kleinen Laden, in dem lokale Produkte erhältlich sind. Mit Kochkursen, Weindegustationen und kulturellen Ausflügen möchten die Betreiber ihren Gästen die kulturellen und gastronomischen Besonderheiten der Region näher bringen. Ein Zimmer in der Osteria Manciana ist buchbar ab 130 Schweizer Franken pro Nacht mit Frühstück und ein Schlafplatz im Gästehaus kostet 40 Schweizer Franken mit Frühstück.

Nach vier ereignisreichen Tagen fällt der Abschied vom wunderschönen Kanton Tessin schwer. Am letzten Abend lassen wir den Tag stilvoll im Grotto del Mulino in Morbio Inferiore ausklingen: Hier gibt es reichlich Polenta und Risotto, Ossobuco, Brasato und Coniglio. Dazu vorzüglichen Merlot, den man aus dem Glas oder auch aus dem Tazzin, einer kleinen Schale trinken kann.

Weitere Links & Informationen unter
www.ticino.ch
www.mendrisiotto-turismo.ch

Fein Speisen

Conca Bella Boutique Hotel & Wine Experience
Via Concabella 2, 6833 Vacallo
concabella.ch

Borgovecchio Sa vini
Via Sottobisio 5, 6828 Balerna
borgovecchio.ch

Winzer

Ortelli Vini Azienda Vitivinicola – Mauro Ortelli
Via alla Selva 3, 6873 Corteglia
ortellivini.com

Piccola Vigna von Piermarco Soldini und Pierwalter Trapletti
Via Campagnola 98, 6877 Coldrerio
Via Mola 236, Coldrerio
piccolavigna.ch

Azienda Vitivinicola La Costa
Via Alla Costa, 6883 Novazzano
la-costa.ch

Cantina Cavallini
6838 Cabbio
cantinacavallini.ch

Radtour – Bike & Wine
www.mendrisiottoterroir.ch

Fotos: https://www.concabella.ch und https://piccolavigna.ch

Tagged under:

,