Vox Clamantis zwischen Gregorianik und Volksliedern
Vox Clamantis zwischen Gregorianik und Volksliedern
Vox Clamantis ist bekannt für seine Expertise auf dem Feld des gregorianischen Chorals. Aber auch mit eindringlichen Interpretationen zeitgenössischer Chorliteratur hat sich das estnische Vokalensemble einen Namen gemacht. Zuletzt hat der Chor, der für Arvo Pärt-Klassiker wie „Adam’s Lament“ (2012) oder „The Deer’s Cry“ (2016) verantwortlich zeichnet, sich Psalm- und Volkslied-Vertonungen des estnischen Komponisten Cyrillus Kreek vorgenommen. Dabei lag das Hauptaugenmerk auf den „reinen Stimmen von Vox Clamantis“ und der „Atmosphäre der sakralen Verinnerlichung“, die das Ensemble zu stiften vermocht habe.
Diese musikalisch-poetischen Qualitäten, die Vox Clamantis in Jahrzehnten akribischer Arbeit kultiviert hat, finden sich nun auch auf dem neuen Album, auf dem die Sängerinnen und Sänger um den Dirigenten Jaan-Eik Tulve liturgische Chormusik von Henrik Ødegaard präsentieren. In seinen Kompositionen verwebt Ødegaard auf subtile Weise gregorianischen Choral mit norwegischen Volksliedern, wobei die gregorianischen Hymnen als Ausgangsmaterial dienen, welches er dann mit eigener polyphonen Dichtung ausgestaltet. Hauptwerk sind die achtteiligen Meditations over St. Mary Magdalene’s Feast in Nidaros, die auf Antiphone eines skandinavischen Manuskripts aus dem 13. Jahrhundert basieren und durch Ødegaards kompositorischen Prozess kunstvoll umgedacht wurden.
Ødegaard kann als Glücksfall für den Chor bezeichnet werden. Mit seinen sublimen Verwandlungen gregorianischer Hymnen in eine neue Form von klanglicher Spiritualität passt seine Arbeit kongenial zu der Doppelbegabung von Vox Clamantis. Der estnische Chor taucht gerne in die Tiefen der Musikgeschichte, schwört dabei jedoch nicht der Gegenwart ab, sondern sucht sich frei zwischen Tradition und Moderne zu bewegen. Ähnlich agiert Henrik Ødegaard. Der 1955 in Oslo geborene und in einem kirchenmusikalischen Kontext groß gewordene Komponist setzt sein eigenes musikalisches Empfinden in Beziehung zur mittelalterlichen Überlieferung. „Henrik war schon immer daran interessiert, den gregorianischen Gesang mit seinen eigenen Kompositionen zu verbinden“, urteilt Chorleiter Jaan-Eik Tulve, der den Komponisten seit knapp dreißig Jahren kennt und die Leidenschaft für die Gregorianik mit ihm teilt.
Hymnen wie „Jesu, dulcis memoria” oder „O filii et filiae“ singt der Chor, als hätte er sie selbst komponiert. Der Gesang ist diskret, lässt aber auch einen sinnlichen Drang nach Entfaltung erkennen. Mit Reinheit und Fülle könnte man dieses Ausdrucksspektrum treffend charakterisieren. Insgesamt eine großartige musikalische Entdeckung. Das neue Album wurde im März 2021 im St. Nicholas Dome in Haapsalu, Estland, aufgenommen.
Henrik Odegaard: Vox Clamantis – Geistliche Werke ist auf dem Label ECM erschienen.