Carolin Widmanns Hommage an die Geige
Carolin Widmanns Hommage an die Geige
Eines gleich vorweg: im Repertoire der famosen Geigerin Carolin Widmann paart sich Neugierde mit erheblichem Sachverstand. Während noch immer viele ihrer großen Kollegen die Musik unserer Zeit oft ignorieren, ist sie breiter aufgestellt, lässt unbekannte Komponisten und ihre Werke nicht außen vor.
Auf ihrem neuen, sehr intimen Album L’Aurore präsentiert sie erstmals in der New Series von ECM ein Programm, das ausschließlich der Sologeige gewidmet ist. Dazu stellt sie Literatur vor, die ihr besonders am Herzen liegt und die sich überdies bestens eignet, die Ausdrucksmöglichkeiten der Geige voll auszureizen.
Das Repertoire umspannt einen Zeitraum von fast 1000 Jahren mit Werken aus vier Jahrhunderten. Neben Hildegard von Bingens Gesang „Spiritus sanctus vivificans vita“ aus dem 12. Jahrhundert erklingen Bachs „Partita Nr. 2 in d-Moll“ aus den Jahren 1717 bis 1723, Ysaÿes „Sonate Nr. 5 in G-Dur“ von 1923, George Enescus „Fantaisie concertante“ von 1932 sowie die 2001 und 2002 entstandenen „Three Miniatures“ des britischen Gegenwartskomponisten George Benjamin.
Das Album setzt mit Hildegards Antiphon ein. Widmann liebt das Stück der deutschen Mystikerin, wie sie im Booklet bekennt. In der für Violine bearbeiteten Fassung ist eine sanft fließende, einfache Melodie zu hören, deren Wirkung berührt. Stimme und Gesang bilden die Grundlage unserer gesamten Musiktradition, ist Widmann überzeugt, und rückt mit Hildegards Komposition den kantablen Charakter der Geige ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit den Werken des 20. Jahrhunderts demonstriert die Geigerin ein breites Spektrum der expressiven und virtuosen Potenziale ihres Instruments: von den scharf schneidenden Tönen in Enescus rauschhafter Fantasie über die asketische Aphoristik in Benjamins Miniaturen bis hin zu Ysaÿes tiefsinniger Sonate mit ihren kontemplativen und tänzerischen Anteilen. Nachdem Hildegards Melodie abermals erklungen ist, diesmal in etwas schnellerem Tempo, folgt als Abschluss des Albums Bachs visionäre Partita in d-Moll.
Widmann hat lange damit gewartet, dieses Schlüsselwerk der Geigenliteratur aufzunehmen. Jetzt hält sie die Zeit reif dafür, und diese Reife hört man ihrer Darbietung an. Carolin Widmann ist bekannt für ihre schnörkellose Virtuosität. Ihr Geigenspiel kommt ohne große Gesten aus. Sie pflegt einen dezenten, fein austarierten Ton, der die Musik für sich selbst sprechen lässt. Dieses Solo-Programm ist nichts anderes als eine Hommage an die Geige. Sie reizt die Ausdrucksmöglichkeiten des voll aus. Die Auswahl der Stücke, die es auf dieses Album geschafft haben, ist so getroffen, dass eine lange Geschichte klanglicher Entwicklung der Geige erkennbar ist.
Fazit: Carolin Widmann gibt all dieser Musik einen ganz und gar persönlichen Ton, stets präzise und mit lupenreiner Virtuosität. Und jeder Ton kann als ein Beispiel dienen für das, was die Geige kann.
Carolin Widmann: „L’Aurore“ ist auf dem Label ECM New Series erschienen.