Laurie Anderson: Aus dem Tibetanischen Totenbuch

Laurie Anderson: Aus dem Tibetanischen Totenbuch

Sie sieht sich selbst als Geschichtenerzählerin und nutzt dafür sämtliche Kanäle: Laurie Anderson ist Musikerin, Filmemacherin, Autorin, Performance-Künstlerin, Malerin und Erfinderin von elektronischen Instrumenten. Was immer diese Frau anpackt, wird zum kreativen Kunstwerk. Mit experimentellen Performances sorgte sie erstmals in den 1970er Jahren in der New Yorker Kunstszene für Aufsehen.

Im Chicago des Jahres 1947 erblickt Laurie Anderson das Licht der Welt. Schon als Kind spielt sie mit dem Chicago Youth Symphony Orchester Violinkonzerte. Anfang der 70er Jahre begann die Zusammenarbeit mit Musikern wie Brian Eno, David Byrne oder Philip Glass. Für Big Science, auf der sich auch ihr Hit „O Superman“ findet, nutzte sie neben der elektrisch verstärkten Geige auch elektronische Stimmenverfremdung mittels Vocoder und Synthesizer-Effekte. Es folgten Alben mit Soundtüftlern wie Peter Gabriel, Bill Laswell sowie dem Underground-Hohepriester William S. Burroughs. Anderson war schon immer eine Grenzgängerin zwischen den Kunstsparten.

Anderson und ihr 2013 verstorbener Ehemann, der Velvet-Underground-Sänger Lou Reed, galten über Jahre als eines der kreativsten Paare der Rockmusik. Mit ihren jetzt bald 73 Jahren sprüht sie nach wie vor vor Energie. Ihr aktuelles Werk heißt „Songs From The Bardo“. Darauf zu hören ist fernöstliche Meditationsmusik, europäische Kammermusik und amerikanische Minimal Music. Gemeinsam mit dem tibetischen Sänger Tenzin Choegyal interpretiert sie einzelne Passagen aus dem „Bardo Thodol“, das zu den großen Überlieferungen spiritueller Literatur zählt und als „Tibetanisches Totenbuch“ bekannt ist. „Befreiung durch Hören im Zwischenzustand“ lautet die genauere Übersetzung des aus dem 8. Jahrhundert stammenden Textes, den tibetische Lamas ins Ohr Sterbender rezitieren; dabei geht es um tibetisch-buddhistische Vorstellungen über den Zustand und das Potenzial der Seele nach dem Tod und vor der Wiedergeburt. Anderson rezitiert die Textpassagen und verwendet dabei auch Elektronik; Choegyal, Nachfahre tibetischer Nomaden, singt und spielt dazu die Dranyen, eine Art Laute, sowie Lingbu, eine Bambusflöte. Rubin Kodheli am Cello, Jesse Paris Smith (Klavier, Gongs und Klangschalen) und Shahzad Ismaily (Perkussion) komplettieren das Team.

Das Projekt „Songs From The Bardo“ ist 2014 live aufgeführt worden und liegt nun als Studioeinspielung vor. Über einen durchgehenden, sich laufend verändernden Klangteppich spricht Laurie Anderson die Unterweisungen des „Bardo Thodol“. Der Begriff „Bardo“ steht für „Zwischenzustand“ oder „Übergang“. Beschrieben werden im Totenbuch die physischen und psychischen Ereignisse im Sterbeprozess, im Moment des Todes und des Danach. „Songs From The Bardo“ zieht den Hörer in den Bann. Lauries inzwischen deutlich gealterte Stimme und ihre hochkonzentrierte Sprechweise zwingen zum Zuhören — auch dann, wenn man vielleicht mit der Thematik des Albums wenig anfangen kann. Die 14 Tracks sind jedenfalls geeignet in eine faszinierende Gedankenwelt einzutauchen. Das beigefügte Booklet enthält umfangreiche Texte über das Projekt und die Ausführenden, allerdings nicht den von Anderson gesprochenen Text. Man findet den Wortlaut des Totenbuches aber in verschiedenen Übersetzungen im Web. Insgesamt ein Album von intensiven, dichten, faszinierenden Momenten.

Laurie Anderson/Tenzin Choegyal/Jesse Paris Smith: „Songs From The Bardo“ ist auf dem Label Smithsonian Folkways/Galileo MC erschienen.

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