Keine Note zu viel: Kashkashian spielt Bach

Keine Note zu viel: Kashkashian spielt Bach

Es handelt sich natürlich um die berühmten Cello-Suiten von Bach, die Kim Kashkashian hier auf der Bratsche spielt. Man bewundert nicht nur die makellose Interpretation der armenisch-amerikanischen Bratschistin, die auch mal eine Zeit lang in Berlin gelehrt hat, sondern auch ihre schlichte Erkenntnis, dass es sich bei den Cello-Suiten um Musik handelt, „wo Kunst und Handwerk eins werden“. Wie recht sie hat. Diese Musik für die Ewigkeit klingt durch das eine Oktave höher als das Cello liegende Instrument tatsächlich noch einmal anders. Referenz-Interpretationen gibt es genügend. Denken wir nur an Pablo Casals oder Esther Nyffenegger. Doch wenn Kashkashian auch über zwei Stunden für die sechs Suiten braucht, so erscheint einem keine Note zu viel. Danach mag man keine Musik mehr hören.

Das Besonders an dieser Aufnahme: Kashkashian beginnt eben nicht mit der ersten, sondern mit der zweiten Suite in d-Moll (gefolgt von den Nummern eins, fünf, vier, drei und sechs). Dies sei Manfred Eichers Idee gewesen, sagte sie kürzlich. Und da sie Eicher, den Gründer und Inspirator des Plattenlabels ECM, schon so lange kenne (seit über 30 Jahren) und ihm seit so vielen Aufnahmen vertraue, seinem Sinn für Gestus und große Bögen, sei sie ihm gefolgt. Und es war ein guter Entschluss. Natürlich sind und bleiben Bachs Cellosuiten eine offene Frage. Ihre Offenheit lässt unendlich viele Wege erkennen, die zur Eroberung dieses musikalischen Gipfels führen oder wenigstens zu einer respektablen Annäherung. Dabei ist der Weg das Ziel.

Die Zeiten, da die Bratsche sozusagen als Ostfriesin unter den Streichinstrumenten galt und mit Musikerwitzen bedacht wurde, sind definitiv vorbei. Kim Kashkashian, Jahrgang 1952, Amerikanerin mit armenischen Wurzeln, hat entscheidend dazu beigetragen, die „Armgeige“ aus dem Abseits zu holen und vor allem solistisch zu emanzipieren („Armgeige“ im Gegensatz zur Gambe, der „Kniegeige“).

Bach muss die Cellosuiten zwischen 1717 und 1723 komponiert haben, zu einer Zeit, als er in Köthen Hofkapellmeister des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen war. Die sechs Suiten sind wie so oft bei Bach auch kompositorische Lehrstücke, alle sechs unterliegen einem stetigen Wechsel von Tonarten, Variationen, Rhythmen, Umkehrungen, Stimmungen und Klangfarben. Dank ihrer technischen Souveränität gelingt es Kim Kashkashian, bei allem Tiefblick in die Komposition jederzeit Spielfreude glaubhaft zu vermitteln und den Eindruck zu schaffen, melodische Einfälle wie frisch improvisiert erklingen zu lassen.

Seit ihren Anfängen bei ECM 1985 nähert sie sich Bachs Musik mit unveränderter Hingabe – wie auch ihre anderen Solo-Aufnahmen zeigen, darunter das legendäre Album mit Sonaten von Hindemith sowie ihre weithin gelobte (und mit einem Grammy ausgezeichnete) Interpretation von Stücken Kurtágs und Ligetis.

Kim Kashkashian: „J. S. Bach – Six Suites for Viola Solo“ ist bei ECM erschienen.

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