Heimat, Blech und starke Frauen beim 49. Deutschen Jazzfestival
Heimat, Blech und starke Frauen beim 49. Deutschen Jazzfestival
Das 49. Deutsche Jazzfestival Frankfurt wirft seine Schatten voraus. Vom 25. bis 28. Oktober bietet es eine große Bandbreite an Jazztönen. Heimat, Blech und starke Frauen heißt das Motto in diesem Jahr. Eröffnet wird das Festival in diesem Jahr bereits am Montag, 22.10. mit einer großen Hommage für Albert Mangelsdorff, der am 5. September 90 Jahre alt geworden wäre. Das Konzert findet ab 20 Uhr in der Frankfurter Alten Oper statt. Bei diesemspektakulären Eröffnungsabend feiern Weggefährten und Nachfolger den großen Sohn der Stadt.
Ein halbes Jahrhundert galt der weltberühmte Frankfurter als wichtigster Botschafter des Jazz made in Germany und bis heute lebt sein künstlerisches Vermächtnis. Das wird nicht zuletzt dieses Konzert zeigen. Größen wie Joachim Kühn, Pierre Favre oder Christof Lauer erinnern an ihren musikalischen Weggefährten. Die „Trombirds“ Nils Wogram, Stefan Lottermann und Samuel Blaser errichten neue Tongebäude auf dem von Albert gelegten Fundament.
Mehrstimmiges Spiel auf der Solo-Posaune, Duo-, Trio- und Quintett-Besetzungen garantieren ein abwechslungsreiches Konzerterlebnis. Zu guter Letzt lässt die hr-Bigband das legendäre Album „Trilogue“ von Albert Mangelsdorff, Jaco Pastorius und Alphonse Mouzon im jazzorchestralen Rahmen glänzen, eigens arrangiert von Jim McNeely.
Jodeln auf indisch mit der hr-Bigband und zwei hochkarätig besetzte deutsch-französische Projekte sorgen am Donnerstagabend im hr-Sendesaal für Überraschungsmomente.Unter der Devise „Allgäu meets India“ hat die hr-Bigband featuring Matthias Schriefl ihren großen Auftritt. Wie kaum ein anderer versteht es Schriefl, Alpenfolklore, Jazz, Punk und neue Kammermusik zusammenzudenken und mit einer krachledernen Prise Slapstick zu garnieren. Für das Jazzfestival geht der Allgäuer Tausendsassa noch einen Schritt weiter, bis hin zur indischen Musik, und schreibt ein Programm speziell für die hr-Bigband und illustre Gäste. Gemeinsam mit der hr-Bigband, der renommierten Schweizer Sängerin Sarah Buechi und dem Ex-Frankfurter/Wahlberliner Multiinstrumentalisten Sebastian Merk wird Schriefl eine opulente Begegnung zwischen West und Ost inszenieren. Da trifft das Alphorn auf die Bansuri-Flöte, Jazzgrooves auf Kala-Zyklen, abendländische Harmonik auf Raga-Modi und nicht zuletzt alpenländische auf fernöstliche Spiritualität.
Das zweite Konzert bestreitet das Besson/Sternal/Burgwinkel Trio. „Die Musikszene in Frankreich ist im Moment sehr dynamisch“, sagt Airelle Besson. Die 40jährige Pariserin gehört zu einer neuen Generation von Jazzmusikerinnen, die versucht, Grenzen zu überschreiten. Frisch und jung wollen sie klingen, auch Pop- und Rockelemente werden verarbeitet. „Dennoch ist und bleibt das Jazz“, erklärt Besson, „denn wir improvisieren viel.“ In Frankfurt wird es zu einem der seltenen Konzerte des Trios von Besson mit Sebastian Sternal und Jonas Burgwinkel kommen. Jonas Burgwinkel zählt ohne Zweifel inzwischen zu den kreativsten und dadurch gefragtesten Schlagzeugern der Szene. Ob im Pablo Held Trio, in den Bands mit Hayden Chisholm, Frederik Köster, Niels Klein, Kit Downes oder in den eigenen Projekten: überall fasziniert der 37jährige durch seine ungeheuer leicht und federnd wirkende und doch technisch so anspruchsvolle und aufregende Art, das Schlagzeug zu bedienen. Besonders gern und häufig arbeitet Jonas Burgwinkel mit Pianist Sebastian Sternal zusammen, vor allem in dessen Trio. Sternal, der in Köln und Paris studierte und heute als Professor für Jazz-Klavier in Mainz lehrt, ist ein Pianist und Komponist mit einer reichen Palette an Klangfarben, stilistischen Möglichkeiten und musikalischen Visionen. Im Trio „Besson/Sternal/Burgwinkel“ treffen drei starke und gleichberechtigte Individualisten aufeinander.
Die Formation Sfumato mit Emile Parisien (Sopranosax), Joachim Kühn (Piano), Manu Codjia (Gitarre), Simon Tailleu (Bass) und Mario Costa (Drums) beschließt den Konzertreigen. Schon einmal stand Emile Parisien auf der Bühne des Frankfurter Festivals: 2015 war das, im Duo mit dem Akkordeonisten Vincent Peirani. Gegenseitig überboten sich die beiden Shooting-Stars aus Frankreich mit virtuoser Spielfreude und überbordender Musikalität. Mittlerweile hat Parisien weiter an Reputation gewonnen. Sein Album „Sfumato“ wurde neben vielfach ausgezeichnet. Es markierte das Debut der gleichnamigen neuen Besetzung, die Parisien für das Jazzfestival von Marciac zusammengestellt hatte. 2015 erhielt er dort eine carte blanche und nutzte sie, um dieses Quintett mit Joachim Kühn zu gründen. Der 34jährige Parisien und der 72jährige Kühn sind sich in ihrer rastlosen Entdeckerlust ebenbürtige Partner. Furchtlos lassen sie sich auf improvisierte Dialoge ein und animieren sich gegenseitig zu mitreißenden Höhenflügen. Mit Manu Codija bereichert einer der interessantesten Gitarristen der französischen Szene die Besetzung. Zusammen mit Bassist Simon Tailleu und Schlagzeuger Mario Costa agiert diese Truppe bereits auf ihrem Debutalbum so schlagkräftig, als ob sie schon Jahre des Zusammenspiels auf dem Buckel hätte.
Der Freitagabend im hr-Sendesaal schlägt einen Bogen von hypnotischen Sounds aus Helsinki über ein multiinstrumentales Feuerwerk aus Österreich hin zu Big Names aus den USA. Beim ersten Konzert ist die Band Oddarrang zu hören. Im vergangenen Jahr konnten die Konzertbesucher den fantastischen finnischen Ausnahmedrummer Olavi Louhivuori in Frankfurt noch als Mitglied der Band „Rubicon“ erleben. Jetzt kommt der 37jährige vielfach preisgekrönte Schlagzeuger mit seinem eigenen Projekt Oddarrang. Schon seit über 10 Jahren tourt dieses ungewöhnlich besetzte Quintett aus Helsinki durch Europa, gastiert bei den großen Jazzfestivals in London, Paris und Glasgow und fasziniert das Publikum allerorten mit seiner einmaligen und eigensinnigen Mischung aus Jazz, World Music, Filmmusikelementen und Postmodern Rock. „Agartha“ heißt das aktuelle, inzwischen vierte Album von Oddarrang.
David Helbock’s Random/Control ist danach an der Reihe. Dann stehen
mehr als zwei Dutzend Instrumente auf der Bühne, wenn das Trio Random/Control um den 34jährigen österreichischen Tausendsassa David Helbock eines seiner spektakulären Konzerte gibt. Wobei sich der aus Vorarlberg stammende Helbock dabei auf solche mit Tasten konzentriert, dabei allerdings auch regelmäßig innerhalb des Flügels agiert und hantiert. Fürs Gebläse und alle möglichen anderen Klangerzeuger sind dann die beiden am Salzburger Mozarteum ausgebildeten Johannes Bär und Andreas Broger zuständig. In irrwitziger Geschwindigkeit wechseln sie Instrumente und Positionen, erschaffen zusammen mit Bandleader David Helbock einen sich ständig neu definierenden und stetig pulsierenden Klangkörper. Gemäß dem Bandnamen halten die drei musikalischen Irrwische souverän die Balance zwischen Zufall und Kontrolle, zwischen Improvisation und Komposition.
Den Abschluss am Freitag bildet SFJAZZ Collective plays the music of Miles Davis.
Ungeachtet von Besetzungswechseln ist das Oktett seinem künstlerischen Konzept und Anspruch stets gerecht geblieben. Jedes Jahr nimmt sich das Ensemble einen ikonischen Musiker aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor und ehrt ihn mit zeitgenössischen Arrangements seiner Kompositionen. Neben den üblichen Verdächtigen wie Coltrane, Coleman oder Corea sind darunter auch die Popmusiker Stevie Wonder und Michael Jackson. Doch das SFJAZZ Collective bleibt nicht bei der Repertoirepflege stehen. Jahr für Jahr werden außerdem neue Kompositionen kommissioniert, denn alle Bandmitglieder komponieren auch. Respekt vor der Tradition und die Innovationskraft des Jazz kommen so gleichermaßen zur Geltung. Darauf lässt auch der Blick auf die Mitglieder des SFJAZZ Collective schließen. Mit den beiden aus Puerto Rico stammenden Saxofonisten Miguel Zenón und David Sánchez, Posaunist Robin Eubanks und Schlagzeuger Obed Calvaire vereint sie starke Künstlerpersönlichkeiten, die zu den Besten auf ihrem Instrument zählen. Vibraphonist Warren Wolf spielt mit Christian McBride oder der David Sanborn/Joey DeFrancesco Group. Der aus Venezuela stammende Pianist Edward Simon genießt gleichermaßen hohen Respekt in Jazz- wie in Kammermusikkreisen. Trompeter Etienne Charles teilt mit ihm und Miguel Zenón die karibisch-südamerikanische Herkunft und die Tatsache, dass alle Guggenheim-Stipendiaten sind. Auf dem 2017 erschienenen Live-Album „SFJAZZ Collective plays the music of Miles Davis & original compositions“ glänzt jedes Bandmitglied mit hochvirtuosen, inspirierten Beiträgen.
Am Samstag werden Shake Stew den Abend eröffnen. „Wenn es irgendwo eine Möglichkeit gibt, dann tendier ich immer dazu, sie extrem zu nutzen und das Maximum rauszuholen“, sagt der österreichische Bassist Lukas Kranzelbinder. Mit 30 Jahren hat er schon mehr Projekte auf die Schiene gesetzt, als manch anderen in ihrer kompletten Karriere glücken. Er hat ein Label gegründet, eine Jazzoper geschrieben, eine zeitgenössische Bearbeitung des Jedermann abgeliefert, und mit seinem Polyarmory-Sound-Festival an einer Vernetzung der Jazzszenen von London, Berlin, Paris, Köln und Wien gearbeitet. 2016 gab ihm das Jazzfestival Saalfelden eine carte blanche für das Eröffnungskonzert – als jüngstem Musiker in der bald 40jährigen Geschichte der Veranstaltung. Kranzelbinder gründete das Septett Shake Stew und sorgte mit ihm für eine „magische Eröffnungsstunde“, wie der Wiener Standard anschließend jubelte. Mittlerweile hat die Band bereits ihr zweites Album vorgelegt und die positiven Rezensionen überschlagen sich. Shake Stew, das ist ein Septett mit zwei Bässen, zwei Schlagzeugern, Trompete und zwei Saxophonen – und alle spielen um ihr Leben. So jedenfalls mag es Lukas Kranzelbinder, Bandleader und Bassist in Personalunion. Ihm geht es immer auch um Spiritualität – und um Gefühle. In seinem geschüttelten Eintopf, seinem Shake Stew, verkocht Kranzelbinder in geradezu verschwenderischer Freigiebigkeit unterschiedlichste Ingredienzen: etwa federhall-getränkte Surfsounds und mystische Gnawa-Grooves, hypnotische Minimal Music und hymnischen Alpen-Gospel, atmosphärische Klangflächen und explosive Kollektivimprovisationen, die an Charles Mingus‘ Workshopbands erinnern. Auch literarische Inspirationsquellen werden angezapft. So entsteht ein „intergalaktisches Road Movie für die Ohren“ oder einfach „großes Klangkino“, wie in der österreichischen Presse zu lesen war. Lukas Kranzelbinder ist ein Musiker, der mit seiner Kunst eine emotionale Kraft entwickelt, wie das nur wenige Jazzmusiker können oder wollen.
Das zweite Konzert bestreitet die Yazz Ahmed Band – La Saboteuse. In Bahrain, dem aus 30 Inseln bestehenden Staat im Persischen Golf, verbrachte Yazz Ahmed ihre Kindheit, mit neun Jahren kam sie nach Großbritannien, dort lebt sie auch heute. Die 35jährige Trompeterin, Flügelhornspielerin und Komponistin verarbeitet die kulturellen Einflüsse beider Welten in ihrer Musik. „Psychedelic Arabic Jazz“, so nennt ein algerischer Journalist diesen Stil – und Yazz Ahmed freut sich über diese treffende Einordnung. „Ich liebe den Klang arabischer Musik“, sagt sie. „Die Melodien, der Gesang stehen für einen zutiefst humanistischen Ansatz und unterstreichen die Leidenschaft dieser Musik“. Auf bislang zwei CDs hat Yazz Ahmed ihre gelungene Mischung aus britisch geprägtem Jazz mit ihren arabischen Wurzeln präsentiert, dabei u.a. ein speziell entwickeltes vierteltöniges Flügelhorn eingesetzt, das es ihr erlaubt, den ganz besonderen Skalen der arabischen Musik sehr nahe zu kommen. Überragende Kritiken und inzwischen weltweite Konzerteinladungen sind die Folge, die CD „La Saboteuse“ gilt vielen sogar als „Album des Jahres 2017“. Wie viele MusikerInnen ihrer Generation begreift Yazz Ahmed Jazz als durchaus aktuelle Musik, vergleicht diesen mit einem uralten Baum und dessen Wurzeln, der dann doch, ganz natürlich, immer wieder frische Triebe in alle möglichen neuen und überraschenden Richtungen austreibe. Selbstverständlich ist für Yazz Ahmed in diesem Zusammenhang ein Denken über stilistische Genregrenzen hinweg und ganz selbstverständlich arbeitet sie deshalb auch mit Gruppen wie Radiohead und These New Puritans aus den Bereichen Indie-Rock und Elektronik zusammen. Auch diese Einflüsse finden sich wieder in den Kompositionen und Sounds von Yazz Ahmed und ihrer eigenen Band. Schlagzeuger Martin France sorgt hier für den nötigen groove, tat dies auch bei Django Bates und den inzwischen schon legendären Loose Tubes. Auch Bassist Dave Mannington tummelt sich höchst erfolgreich in der aktuellen Londoner Szene, spielt u.a. mit Gwilym Simcock. Und mit dem Kenny-Wheeler-Preisträger Ralph Wyld holte sich Yazz Ahmed einen unglaublich vielseitigen jungen Vibrafonisten in die Band, einen Musiker voller rhythmischer Akkuratesse und Ausdrucksstärke.
Abschließend ist das Mark Guiliana Jazz Quartet zu hören. „Possibly the best drummer in the world”, begeistert sich das Londoner Time Out Magazine, meint den Schlagzeuger und Komponisten Mark Guiliana und schreibt weiter: „Stell dir vor, man addiert die Meister des Hard Bop wie Elvin Jones und Art Blakey mit einer Roland Drum-Maschine, dividiert das Ergebnis dann durch den Hip Hop eines J Dilla, um das wiederum mit dem Drum’n’Bass-Wirbelsturm von „Squarepusher“ zu multiplizieren“. Auf alle Fälle war auch David Bowie vom innovativen und kompromisslosen Ansatz des 38jährigen New Yorkers derart begeistert, dass er Mark Guiliana kurzerhand als Schlagzeuger für sein letztes Album „Blackstar“ engagierte. Zum Deutschen Jazzfestival Frankfurt kommt Mark Guiliana mit seinem eigenen Quartett und der aktuellen CD „Jersey“.
Zwei herausragende Instrumentalistinnen der improvisierten Musik gestalten die kammermusikalische Sonntagsmatinee im Café des Mousonturms. Sie heißen Kaja Draksler (Piano) und Susana Santos Silva (Trompete, Flügelhorn). Beide gelten als ganz große Entdeckungen der jungen improvisierenden Szene: die aus Slowenien stammende Pianistin Kaja Draksler und die portugiesische Trompeterin Susana Santos Silva. Kennengelernt haben sich die zwei Musikerinnen vor einigen Jahren im „European Movement Jazz Orchestra“. Dieses durch den Deutschen Musikrat initiierte Orchester vereint junge europäische JazzmusikerInnen zu einem experimentierfreudigen Klangkörper mit einer Vielzahl von musikalischen Einflüssen.
Zum Abschlusskonzert des Festivals bringt Kamaal Williams am Sonntagabend eine elektronischere Spielart der aktuellen Londoner Crossover-Szene in den Saal des Mousonturms mit Henry Wu (Keyboards), Pete Martin (Bass) und Josh McKenzie (Drums). Kamaal Williams ist das aktuelle Trio-Projekt des Londoner Keyboarders, Produzenten und DJs Henry Wu, dessen islamischer Name Kamaal ist. Der in London aufgewachsene Endzwanziger spielte zunächst Schlagzeug, bevor er als Ausnahmetalent an den Tasten von sich reden machte. 2016 sorgte sein Debütalbum „Black Focus“ für Aufsehen, das er zusammen mit dem Schlagzeuger Yussef Dayes unter dem Namen Yussef Kamaal veröffentlicht hatte. Diese Formation löste sich allerdings bald nach dem Erscheinen des Albums auf. Mit Josh McKenzie alias McKnasty, der mit Robert Glasper gespielt hat, besitzt das aktuelle Trio einen außerordentlich feurigen Schlagzeuger. Bassist Pete Martin ist aus Courtney Pines berühmter Band der späten 90er Jahre bekannt. Die Auftritte des Trios werden von großer Improvisationslust und einem beinahe telepathischen gegenseitigen Verständnis getragen. Die musikalischen Einflüsse reichen von Herbie Hancock und anderen Größen des 70ies-Jazzfunk bis zu elektronischen Underground-Genres wie Garage oder Grime.
unter der Telefonnummer 069 / 155 2000. Weitere Infos und Tickets im Internet gibt es hier.
Fotos: hr/Urban Kirchberg, hr/Dirk Ostermeier